· 

Sterbebegleitung bei Demenz -Teil 2

Sterbebegleitung bei Demenz – ein Erfahrungsbericht Teil 2

 

 

Wir bekamen samstagsmorgens einen Anruf, dass es meiner Schwiegermutter deutlich schlechter geht. Sie hätte nicht mehr lange, wir sollten kommen. Ich bedankte mich sehr bei den aufmerksamen Pflegekräften für den Anruf. Mein Mann, frisch am Fußzeh operiert, war noch zum Verbandswechsel in der Ambulanz. Ich rief ihn an und ging so schnell ich konnte ins Pflegeheim. Zum Glück hatte ich vorgestern schon auf Vorrat eingekauft.

 

 

Reni, meine Schwiegermutter, war schon vom Tod gezeichnet. Das Mundpflegeset steht am Bett. Sie atmete schwer, ich befeuchtete ihr immer wieder den Mund mit etwas Wasser, hielt ihre Hand. Ich bekam ein Glas Wasser angeboten, die Pflegekraft brachte uns eine Flasche Wasser und zwei Gläser. Immer wieder war ich beeindruckt von der Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft der Pflegekräfte hier. Ich hielt Renis Hand, und sagte ihr immer wieder, dass mein Mann Mike unterwegs sei. Sie atmete schwer, aber ziemlich regelmäßig. Ich hatte das Bedürfnis zu beten. Ich sprach langsam, stockend und halblaut ein Vater Unser. Es ist ziemlich lange her, dass ich Jugendgottesdienste gemacht und laut ein Vater Unser gesprochen habe. Mir kamen die Tränen. Ich sprach es noch ein paar Mal. Mein Mann kam. Ich hatte Angst, wie er mit der Situation klarkommen wurde.

 

 

Ich nahm ihn in den Arm, er setzte sich ans Bett, hielt ihr die Hand, strich ihr über den Kopf. Er sprach sie noch ein paarmal liebevoll an, ihr Atem wurde ruhiger und weniger. Es war ein sehr liebevoller Moment und wir saßen länger so. Dann kamen die Pflegekräfte rein und wollten sie noch mal umbetten. Etwas in mir wehrte sich dagegen, warum jetzt, in diesem friedlichen Moment noch mal umbetten? Aber wir gingen raus.

 

 

Es war Samstag, es gab Suppe und man bot uns an, eine Suppe mitzuessen. Wir aßen die durchaus wohlschmeckende Kartoffelsuppe mit Würstchen. Ich wollte schnell wieder ins Zimmer zurück, mein Mann wollte noch einen Moment verschnaufen. Die Pflegekräfte kamen zu uns mit traurigen Gesichtern. „Ihre Mutter hat es geschafft“. Wie oft habe ich solche Sätze zu anderen Angehörigen gesagt. Wir waren im letzten Moment nicht bei ihr. Sie hat sich entschieden, zu sterben, als die Pflegekräfte bei ihr waren.

 

 

Wie oft habe ich zu Angehörigen gesagt, ja, das ist oft so, die Menschen sterben genau in dem Moment, wenn die Angehörigen eine Pause machen, einen Tee trinken. Ja, und ich hatte jetzt Schuldgefühle wegen der Suppe, dass wir rausgegangen waren. Und wenn ich zehnmal weiß, dass es oft so ist, jetzt fühlt es sich doch so an, dass ich denke, wären wir bloß im Zimmer geblieben…

 

 

Wir gehen ins Zimmer zurück, sie sieht friedlich aus, ist aber noch nicht zurechtgemacht. Die Pflegekräfte verständigen den notärztlichen Dienst. Mein Mann weint sehr, ist sehr erschüttert. Und er verhält sich völlig natürlich, streicht ihr auch jetzt über den Kopf, begreift, dass sie verstorben ist. Ich öffne das Fenster. Wir sitzen einen Moment so da, nehmen Abschied.

 

 

Ich rufe die Pietät an, eine Bestatterin, mit der ich befreundet bin, zu der ich Vertrauen habe. Es ist jemand völlig anderes am Apparat, aber die Stimme klingt sehr nett und vertrauenserweckend. Sie bedankt sich für den Anruf, wir sollen uns wieder melden, wenn der Arzt da war. Sie wünscht uns gutes Abschiednehmen. Es klopft an der Tür. Die Pflegekräfte wollen sich auch verabschieden und ein Gebet sprechen, es ist Übergabezeit.

 

 

Es kommen ca. 8 Pflegekräfte in den Raum, teilweise auch mit Tränen in den Augen. Reni war über 10 Jahre hier in dem Haus. Eine Pflegekraft stimmt das Vater unser an, alle fallen ein. Danach ein Moment Schweigen. Die Pflegekraft sagt „Liebe Reni, wir wollen uns von Dir verabschieden. Du warst lange hier in unserem Haus. Wir werden Dich vermissen. Wir wünschen Dir alles Gute auf deiner langen Reise zum lieben Gott.“ Nichts davon wirkt einstudiert, es wirkt natürlich, liebevoll und würdevoll. Danach geben uns alle die Hand und kondolieren. Ich habe Tränen in den Augen, mein Mann weint, wir sitzen wieder eine Weile am Bett.

 

 

Nach einer langen Zeit kommt der Arzt, ein fremder Arzt, ein hemdsärmeliger Typ. Er will uns nicht die Hand geben, er käme gerade von einem anderen Haus mit Durchfallepidemie. Er bespricht sich erst mit der Schwester. Wir gehen raus, er sagt dann, das kam ja jetzt nicht unerwartet. Er stellt schnell dien notwendigen Papiere aus und eilt weiter.

 

 

Wir sitzen einen Moment auf der Terrasse. Wir bekommen Kaffee und Kuchen angeboten. Es ist ein schöner, sonniger Spätsommertag. Reni wäre in wenigen Tagen 87 geworden. In dieser Jahreszeit Anfang September liegen ihr Geburtstag und unser Hochzeitstag. Ich trinke ein Tässchen Kaffee, halte meinem Mann Mike die Hand, der sichtlich bewegt ist. Nach einer längeren Zeit werden wir ermutigt, noch mal ins Zimmer zu gehen.

 

 

Die Pflegekräfte haben meine Schwiegermutter unglaublich schön zurecht gemacht, sie liegt friedlich und würdevoll im Bett, in einem schönen schwarzen T-Shirt, mit Blumen und einem kleinen Holzkreuz dekoriert. Wir sitzen noch einen Moment am Bett, benachrichtigen die Pietät, dass alles soweit fertig ist. Mein Mann möchte nach Hause. Die Pflegekräfte bitten uns, was wir an Erinnerungsstücken brauchen, am besten jetzt schon aus dem Zimmer zu nehmen.

 

 

Es ist nicht viel. Ein paar Fotos, zwei kleine Kästchen mit Modeschmuck. Wir packen ein, nehmen Abschied, mein Mann berührt seine Mutter noch mal, ich habe ein Foto gemacht. Mein Mann ist unendlich erschöpft. Wir verabschieden uns von den Pflegekräften, rufen ein Taxi.  Der Taxifahrer ist total unfreundlich, will den Kofferraum nicht öffnen für uns. Wir sind wieder in der normalen Welt, fahren zurück, ich gebe ihm nur 10 Cent Trinkgeld.

 

 

Zu Hause angekommen, legt mein Mann sich ins Bett. Er will noch mit niemandem telefonieren. Ich schreibe ein paar Emails, komme schlecht zur Ruhe. Reni hat ihre letzte Reise angetreten. Ich bin unendlich dankbar, dass ich nicht weggefahren bin an diesem Wochenende und in der kommenden Woche fast keine Termine habe. Abends rufen erste Freundinnen und Freunde an und kondolieren uns.

 

 

Reni hat über 15 Jahre lang mit der Krankheit Demenz gelebt. Es war ein sehr langsamer Abschied. Wir sind dem Pflegeheim unendlich dankbar für die liebevolle Pflege und wie würdevoll alles gestaltet wurde. Am nächsten Tag ruhten wir uns einfach nur aus. Am Montag gingen wir zu meiner Lieblingsbestatterin. Mein Mann hat den Mut, noch mal seine aufgebahrte Mutter zu sehen und auch das ist wieder sehr liebevoll und würdevoll. Ich bin so dankbar, dass es diese Orte und Kontakte gibt.

 

 

Danke fürs Lesen,

 

Monika Müller-Herrmann

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0