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Ethikunterricht in der Altenpflege

Nachdem ich schon mehrmals die Themen Sterben, Tod, Trauer und Hospizarbeit an einer Altenpflegeschule unterrichtet hatte, wurde ich diesmal für den Ethikunterricht eingeladen. Es sollte um ethische Konflikte im pflegerischen Alltag gehen, wie sie z.B. bei der Nahrungsverweigerung oder der Ablehnung anderer pflegerischer Maßnahmen entstehen.

 

 

Ich kaufte mir zwei Fachbücher zum Thema Didaktik des Ethikunterrichts in der Pflege und las sie quer, fand sie aber sehr wissenschaftlich und wenig brauchbar. Ich bemalte sechs runde, bunte Papp-Kreise mit Begriffen wie Würde, Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit, Dialog und Verantwortung. Ich dachte mir vier Fallbeispiele aus, in denen ethische Konflikte zwischen diesen Werten bestanden.  Dazu eine kurze Powerpointpräsentation und einige Schreibspiele. Die Altenpflegeschule verfolgt das Konzept des schreib- und sprachfördernden Unterrichts, ich sollte die Schüler und Schülerinnen viel zum Vorlesen, Sprechen und Schreiben anregen.

 

 

Ich kam am ersten Nachmittag viel zu knapp in der Klasse an, die S-Bahn hatte Verspätung, der Beamer stand zum Glück schon da. Ich werde langsam Expertin darin, an den unterschiedlichsten Orten schnell Beamer und Laptop aufzubauen und Ruhe zu bewahren, bis alles gestartet und hochgefahren ist.

 

 

Ich stelle mich vor, Psychologin und Altenpflegerin, Palliativfachkraft und Trauerbegleiterin. In zwei Häusern, in denen die Schülerinnen jetzt tätig sind, habe ich selbst gearbeitet.

 

 

Ich mache eine kurze Vorstellungsrunde und einer Eingebung folgend fange ich bei der Schülerin ganz hinten links an. Mir ist oft aufgefallen, dass in der letzten Reihe kritische Köpfe sitzen, die sich, wenn man sie ermutigt, sehr gerne am Unterricht beteiligen. Schnell sagen die Schülerinnen, am ersten Nachmittag sitzen nur junge Frauen im Raum, wie sie heißen, in welchen Bereichen sie gerade eingesetzt sind.

 

 

Sie hatten noch nie Ethikunterricht. Ich beginne also, ganz langsam zu erklären, was sind Werte in der Pflege, was ist ein ethischer Konflikt zwischen zwei oder drei Werten. Ich stelle anhand meiner bunten Pappkreise ein Modell von Werten vor, sie hören gut zu. Obwohl ich den Nachmittagsunterricht habe, kommen sehr schnell Fragen aus der Gruppe. Als sie merken, dass ich keine Frage zurückweise, sondern jede Frage geduldig beantworte, werden sie wach. Dann teile ich die Fallgeschichten aus, bereitwillig übernehmen sie in Kleingruppen die Geschichte von Herrn P. oder Frau X. Bei manchen Beispielen können sie nicht glauben, dass es echte Fälle sind, aus meiner Praxis als Hospizdienstleitung.  Es geht um Nahrungsverweigerung, um Umgang mit Schmerzmitteln, um starke Sedierung. Das Thema Mundpflege ist ihnen sehr vertraut, das kennen sie gut.

 

 

Sehr schnell kommt in den Kleingruppen ein Gespräch in Gang, sie diskutieren schnell und identifizieren die Werte, die hier betroffen sind oder in Gefahr sind. Sie sind viel schneller mit der  Aufgabe fertig, als ich dachte. Alle vier Gruppen lesen bereitwillig vor, identifizieren einzelne oder fast alle Werte… nur an den Begriff „Würde“ wagt sich kaum eine Gruppe heran. Was ist das mit der Würde, frage ich sie? Woher kommt sie, wer verleiht sie? Lebende, Sterbende und selbst Verstorbene haben ihrer Würde.

 

 

Schnell kommen viele praktische Fragen aus der Klasse. Wann darf ich die SAPV rufen? Wann darf ich den Verstorbenen versorgen? Muss nicht erst der Arzt kommen? Sie stellen mir jede Menge Fragen, ich kann in aller Ruhe ganz beiläufig erklären, was ist ein Hospizdienst, was ist ein Palliative Care Team, was ist eine seelsorgerliche Begleitung, was ist eine hospizliche Begleitung….die Zeit vergeht sehr rasch. Am Ende gibt es noch ein Schreibspiel, sie machen alle mit, aus den Buchstaben des Wortes „Lebensqualität“ neue Wörter zu finden, was für sie Lebensqualität ist. Ganz am Ende der Stunde sind sie noch mal sehr konzentriert und auch sehr froh, dass ich diese Blätter nicht einsammeln will. Eine sagt „Bildung, gerechter Lohn, Freude, gute Arbeit“ Eine sagt „Liebe, Treue, Freunde, Familie“. Sie merken, keine muss etwas abgeben, keine muss etwas vorlesen. Es ist zu privat, sagt eine.

 

 

Da in fast allen Fallbeispielen keine Patientenverfügung existierte, schlage ich vor, am nächsten Tag dazu etwas zu machen. Bereitwillig sagen sie ja. Nur zwei Schülerinnen aus der Klasse hat schon mal so ein Formular gesehen. Sie sind im 2. Jahr.

 

Am nächsten Nachmittag wirken die Schülerinnen und der Schüler aufgewühlt und erschöpft, der Vormittag war wohl emotional anstrengend. Ich nehme mir vor, einfach noch mal zu wiederholen. Alle können sich noch an die sechs Werte erinnern, ich hänge die Pappscheiben wieder auf. Es gibt noch mal drei Fallgeschichten. Die Schülerinnen  und der Schüler lesen auch diesmal wieder neugierig die Fallgeschichten durch, bilden Kleingruppen und diskutieren. Sehr schnell schaffen sie es diesmal, alle Werte in den Fallgeschichten zu erkennen und zu benennen, warum sie betroffen sind.

 

 

Ich zeige wieder eine kurze Powerpointpräsentation und auch den Wortlaut des Patientenverfügungsgesetzes. Dabei frage ich mich innerlich, passt das noch im Ethikunterricht oder gehe ich hier schon zu weit. Dann teile ich die Formulare der Deutschen Palliativstiftung aus, die ich abends alle selbst ausgedruckt habe. (1000 Dank für die Downloadmöglichkeit!). Denn an der Schule existiert kein Formular.

 

 

Ich bitte die Schüler und Schülerinnen, sich in zwei Gruppen zu teilen. Eine Gruppe soll das Formular für sich selbst auszufüllen versuchen. Eine Gruppe soll versuchen, die Vertreterverfügung für ihre Mutter oder ihren Vater auszufüllen. Außerdem sollen sie alles ankreuzen und markieren, was sie nicht verstehen. Es ist fast 20 Minuten konzentrierte Stille. Alle lesen, blättern, markieren etwas, schreiben etwas, schlagen Dinge in einem kleinen Wörterbuch nach oder schauen nachdenklich immer wieder mal in die Luft.

 

 

Dann bilden sie Zweiergruppen und tauschen sich aus, wie es ihnen mit dem Formular ging. Ca. 15 Minuten lang reges Geplapper im Raum, Zeit und Fragen, teilweise Lachen. Schließlich sprechen wir das Formular Schritt für Schritt durch. Alle finden es ziemlich kompliziert. Also echt, da braucht man eine Beratung! Keiner weiß, dass den Pflegeheimen längst zusteht, eine Beratungskraft im Hause zu beschäftigen. Keiner wusste, dass man in der Patientenverfügung auch Dinge wünschen kann, alle meinten, sie dient nur dazu, Dinge abzulehnen. Die Stimmung wird heiter als ich erkläre, sie können sich auch jeden Tag ein Bad mit Weleda Wildrosenmilch wünschen oder Nachthemden tragen statt Schlafanzug.

 

 

Als ich frage, wer hätte gewusst, was sein Vater oder seine Mutter gewollt hätte, einhelliges Kopfschütteln. Darüber haben fast alle noch nie mit ihren Eltern gesprochen. Zwei Schülerinnen mit afrikanischem Migrationshintergrund sagen auch ganz klar, darüber darf man bei uns nicht sprechen. Der Tod ist ein Tabu. Ein junger Mann hat die Vertreterverfügung für seinen Bruder geschrieben. Er meinte, er wüsste ziemlich genau, was sein Bruder will. Sie würden sehr offen über solche Sachen sprechen.

 

 

Am Ende gibt es noch mal ein Schreibspiel. Die Buchstaben des Wortes „Lebenswert“ sollen anregen, was macht mir das Leben lebenswert. Und hier kommt es auf einmal, das Wort Würde.

 

 

Mir hat der Unterricht wieder viel Spaß gemacht. Es war so ein lebendiger Kursnachmittag, ich hatte sehr viel Freude mit den Schülerinnen und Schülern. Der Dialog, das ins Gespräch miteinander kommen, auf spontane Fragen offen reagieren, ist mir das Wichtigste.

Monika Müller-Herrmann

 

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