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Ethikunterricht bei 32 Grad im Schatten

Ethikunterricht in einer Altenpflegeschule: Sterbehilfedebatte bei 32 Grad im Schatten

 

 

Heute habe ich wieder Ethikunterricht. Es ist stickig und brütend heiß, in meiner Stadt sind es schon 32 Grad im  Schatten. Das Klassenzimmer ist schlecht gelüftet. Ich habe Nachmittagsunterricht, alle wollen eigentlich hitzefrei, ich selbst eingeschlossen. Ich starte mit etwas Gehirnjogging, dem Palliativ-Worträtsel. Es geht darum, aus einer Buchstabenmatrix Begriffe zu Tod, Sterben, Leben und Hospizarbeit herauszufinden. Alle machen gut mit. Nur zwei Schülerinnen finden in dem Gewirr aus Buchstaben auch den Begriff „Spaß haben“. Alle anderen erwarten nur ernste Begriffe.

 

 

Dann erkläre ich an der Tafel, was ist der Unterschied zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe. In den vorherigen Stunden hatten wir das Thema Patientenverfügung, dann alle Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung wie Hospiz, Palliativstation, SAPV Team, Hospizdienst. Der Hospizdienst als Einrichtung war den Schülern und Schülerinnen völlig unbekannt. Die SAPV Teams kennen Sie, und die Erfahrungen damit sind eher negativ. Ja, die marschieren dann da rein, hängen ihre Nummer ans Bett, reden mit den Angehörigen… und kommen erst nächste Woche wieder. Die eigentliche Pflege, Tag für Tag, rund um die Uhr, die machen wir.

 

 

Wir besprechen heute das Thema Sterbehilfe, das hatten sich die Schülerinnen auch gewünscht. Wann machen wir was mit Sterbehilfe, so wie in der Schweiz? Aber angesichts der Hitze ist die Beteiligung am Unterricht mäßig. Ich schicke sie in drei Kleingruppen und lasse sie Pro- und Contra Argumente aufschreiben. Als die Schülerinnen nach einer halben Stunde mit ihren Plakaten zurückkommen, schlucke ich. Alle drei Kleingruppen haben mehr Pro Sterbehilfe Argumente als Contra.

 

 

Die einzigen wenigen Contra Argumente sind „Ein Arzt ist doch zum Helfen da und nicht zum Töten“. „Die Angehörigen machen dann vielleicht Druck“, „Depressionen sollten behandelt werden“, „Psychisch kranke Menschen brauchen Hilfe“  „Man könnte seinen Suizid später bereuen“. „Hohe Kosten bei Reisen in die Schweiz“. Keinerlei religiös oder konfessionell verfasste Contra Argumente werden genannt. Kein Bezug zur Würde des Menschen, kein positiver Zusammenhang zur Hospiz- und Palliativarbeit.

 

 

Umso erschreckender sind die Pro- Argumente: „Ich will einen selbstbestimmten Tod.“ „Es gibt dann weniger Suizidversuche.“  „Ich will nicht dahinvegetieren. Ich will nicht wie Gemüse leben.“  „Wenn ich im Wachkoma liege, soll mir jemand die tödliche Spritze geben.“  „Krankheiten wie MS, Demenz, jahrelang im  Bett liegen, das ist doch kein Leben mehr. Wenn ich MS kriege, will ich mich sofort umbringen dürfen.“  „Wenn jemand alt und einsam ist, keine Familie hat und keinen Besuch bekommt, will er doch lieber sterben.“  „Diese ganze Pharma, Hospiz- und Palliativindustrie soll an mir kein Geld verdienen.“ „Ärzte können einen sauberen Tod bringen, ohne Schmerzen, ohne qualvolles langes Leiden.“

 

 

Ich muss erst mal schlucken, als ich das lese. Die Schülerinnen tragen alles sehr offen vor. Positiv gesagt merke ich, sie haben Vertrauen, sich ehrlich und unverblümt zu äußern. Ich versuche zu erklären, dass im Gegenteil die Suizide in einem Land, das Sterbehilfe legalisiert, deutlich zunehmen, da sich die Haltung dazu ja verändert. Ich versuche, zu argumentieren. Wenn jemand im Wachkoma liegt und eine Patientenverfügung hatte, genügt eine Einstellung der künstlichen Ernährung. Es muss keine tödliche Spritze gegeben werden. Wenn jemand alt und einsam ist und keinen Besuch hat, frage ich die Schülerinnen, warum schicken Sie ihm keinen Besuchsdienst? Die Schülerinnen winken ab. Das ist nicht dasselbe. Ich frage offensiver zurück: Wie viel Zeit geben Sie sich für ihren Tod? Warum erleben Sie nur aktive Sterbehilfe als selbstbestimmten Tod?

 

Immer wieder kommt das Argument, ich will nicht leiden, ich will nicht dahinvegetieren. Ich will einen schnellen Tod, selbstbestimmt, eine sagt sogar „kurz und knackig!“. Krankheiten wie Demenz, MS, Schlaganfall, mit denen die Altenpflegeschülerinnen täglich zu tun haben, sind für sie ein Leben, dass die meisten Menschen wohl aktiv beenden wollen. Eine sagt sogar, ich mach erst dann eine Patientenverfügung, wenn die aktive Sterbehilfe endlich erlaubt ist.

 

 

Ich erkläre noch einmal die Prinzipien von Palliative Care, Hospizarbeit, palliativer Pflege. Niemanden im Tod alleine lassen. Das Optimum an Schmerzmitteln. Die Wertschätzung, die würdevolle Behandlung, die Ermöglichung letzter Wünsche. Sie erleben es in den Heimen, in denen sie die Ausbildung machen, anders.

 

 

Auf die Rückfrage, was sie machen würden, wenn jemand sie konkret um aktive Sterbehilfe bitten würde, antworten sie ausweichend. Ich bin doch kein Arzt. Ich darf das nicht. Das ist doch verboten. Keine Schülerin, kein Schüler, keine Schülerin antwortet mit moralischen Skrupeln.

 

 

Liegt es am Hitzewetter, am sommerlich warmen Montagnachmittag, dass hier keine rechte Diskussion in Gang kommt? Einige Schülerinnen tragen sehr deutliche Zeichen ihrer Konfession, dennoch argumentieren sie nicht damit. Keine Schülerin, kein Schüler benennt die Werte, die wir vorher im Unterricht behandelt haben, z.B. dass niemand über den Wert eines anderen Lebens urteilen darf. Wir hatten das BGH Urteil besprochen, Leben ist kein Schaden, wir hatten die wichtigsten Werte in der Pflege besprochen.

 

 

Ich gehe ratlos aus diesem Unterricht raus, gerate auf dem Heimweg in einen erfrischenden Gewitterregen und frage mich: Habe ich im Unterricht etwas falsch gemacht? Oder wächst hier eine Generation von Altenpflegeschülern und Schülerinnen heran, die einfach nicht für Palliative Care und für achtsame Sterbebegleitung zu gewinnen sind? Ist es der Einfluss der sommerlichen Hitze, dass hier keine gute Diskussion in Gang kommt?

 

 

Während sie an den Themen Hospiz, Palliativstation und Patientenverfügung durchaus viel Interesse hatten, ist das Thema Sterbehilfedebatte offensichtlich kein kritischesThema für sie. Die meisten scheinen es eher zu befürworten. Wie hätte ich sie aufrütteln können, wie das Thema mehr hinterfragen lassen können? Ich bin ratlos. Ich bin dankbar, dass die Schülerinnen offen reden und mir vertrauen, aber es macht mich ratlos. Wie damit umgehen? Ist das nicht bezeichnend für den Kulturwandel in unserer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe fordern? Was werden das für Altenpflegekräfte, die den Wert des Lebens der Menschen, die sie tagtäglich pflegen, als unwürdig empfinden?

 

 

Ich nehme mir vor, das Thema beim nächsten Mal wieder aufzugreifen. Vielleicht muss ich auf Regenwetter hoffen oder noch mal ein paar Fallgeschichten einflechten... ich will nicht aufhören, mich gegen aktive Sterbehilfe zu engagieren, da ich denke, sie würde unsere ganze Hospizarbeit von Grundauf verändern.

 

Danke, wer bis hierhin gelesen hat.

 

Ihre Monika Müller-Herrmann

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Nils Wommelsdorf (Mittwoch, 05 Juni 2019 19:51)

    Danke für den interessanten Beitrag!
    Ich war erst ein wenig voreingenommen, als ich las, dass sie das Abhandenkommen konfessioneller Überzeugungen beklagt haben. Jedoch denke ich, dass das Fehlen der ethischen Vorbehalte, die sie später ausführen, das wirkliche Problem ist.
    Zum Glück sind die Konfessionen kein bestimmender Teil unseres Denkens mehr - dass ethische Überlegungen jedoch so wenig präsent zu sein scheinen, ist schockierend!