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Wie schreiben über Sterben, Tod und Trauer?

Wie kann ich schreiben über Sterben, Tod und Trauer? Und das auch noch in Blogartikeln oder sozialen Medien?

 

21.000 Todesopfer bei einem Erdbeben, das begreifen wir nicht. Vorgestern Abend habe ich beim Zeitung Lesen vorm schlafen Gehen das Bild des einen Mannes gesehen, der vor einem Trümmerberg sitzt und die Hand seiner 15 jährigen Tochter hält, die bereits tot ist und in den Trümmerbergen verschüttet liegt. Ich habe lange auf das Foto gesehen. Wieviel Schmerz und Verzweiflung drückt es aus. 21.000 Tote. Das konnte ich nicht mehr erfassen. Ich glaube, kaum einer von uns kann das erfassen. Aber dieses eine Bild, dieses Exemplar von Einzelschicksal, das rührt mich sehr an. Und so ging es wohl vielen anderen Menschen, das Bild von dem Vater soll gestern durch die Presse und viele  sozialen Netzwerke gegangen sein. Ich, wir alle, brauchen Einzelschicksale, echte oder fiktive, um Sterben, Tod und Trauer zu begreifen. Das ist mir gestern noch einmal klargeworden.

 

Mich hat eine anonyme Anzeige auf Umweg über den Bundesverband Trauerbegleitung erreicht, weil ich auf Facebook über „Einzelschicksale“ berichte und die Vertraulichkeit verletzt hätte. Mal abgesehen davon, dass anonyme Anzeigen nie besonders schön sind, habe ich ein sehr einvernehmliches Gespräch mit einer Vertreterin der Klärungsstelle vom Bundesverband Trauerbegleitung gehabt, in der wir, so hoffe ich, das Thema klären konnten.

 

Ich berichte, das möchte ich noch einmal klarstellen, auf Facebook und in meinen blogartikeln über fiktive Einzelfälle, die immer eine Summe aus mehreren Einzelfällen sind, die ich dann abwandele, zusammenfasse und verfremde, auch wenn ich sie wie einen konkreten Fall schildere. Ich bemühe mich um eine Anonymisierung. Dieses Darstellen von Fällen soll dazu dienen, Kollegen und Kolleginnen in der Trauerbegleitung eine Anschauung und Anregung zu geben, wie vielfältig die Praxis ist, vor welche Situationen, Fragestellungen oder auch Herausforderungen ich als Trauerbegleiterin gestellt bin. Nie geht es mir darum, die Vertraulichkeit der Klient*innen zu missbrauchen. Es geht mir darum, über Trauerprozesse aufzuklären und über die laufende Arbeit anschaulich zu berichten.

 

Wenn ich z.B. schreibe: „In den letzten Tagen mehrere Trauerbegleitungen gemacht, die alle sehr unterschiedlich waren, Trauer um Ehepartner, vorweggenommene Trauer, mehrfache Trauererlebnisse, Trauer um Eltern... ich habe wieder gemerkt, wie gerne ich diese Arbeit mache, und wie spannend es ist, ganz unterschiedlichen Menschen in meiner Arbeit zu begegnen.“ Dann ist das sehr anonym, sehr neutral, aber wenig anschaulich. Man bekommt als Leser*in einen Eindruck, dass meine Arbeit abwechslungsreich ist, aber es wird nicht sehr plastisch.

 

Wenn ich konkret schreibe: „Frau M. kommt zu mir drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes. Sie hat in der Vorgeschichte zwei weitere Sterbefälle gehabt, ihre Mutter und ihre liebste Patentante. Sie sieht in echt ganz anders aus als auf ihrem Whatsappbild, angegriffen, traurig, erschöpft. Sie beginnt, bald im Gespräch zu weinen, ringt um Atem, ich ermutige sie immer wieder, mal durchzuatmen, einen Schluck Wasser zu trinken. Sie vermisst ihren Mann schmerzlich. Schon früher in ihrem Leben hat sie aus anderem Anlass viele Jahre Psychotherapie gemacht, ihre alte Therapeutin praktiziert jetzt nicht mehr. Sie ist aktuell überfordert mit der Suche nach einer Psychotherapeutin, weiß nicht, ob sie genau das braucht. Im Gespräch spricht sie viel, immer wieder von Weinen unterbrochen, sucht meinen Blick, hat gleichzeitig Angst, mir zur Last zu fallen. Das hat sie schon oft erlebt, dass andere ihr signalisieren, mit ihrem verlängerten Trauerprozess sei sie eine Last. Sie zieht sich viel aus Kontakten zurück.“

 

Wenn ich so konkret schreibe, entsteht aus meiner Arbeit ein plastisches Bild. Und ich kann es mit einer Frage an Kolleginnen verbinden, z.B., wie geht ihr damit in Eurer Arbeit um, wenn jemand eigentlich Psychotherapie braucht? Oder wie geht Ihr damit um, wenn jemand immer wieder so um Atem ringt, weint, spricht, kaum Luft dabei holen kann?

 

Mir ist klargeworden, ich muss es in Zukunft deutlicher kennzeichnen, dass es aggregierte Fälle sind, die sich aus verschiedenen Elementen einzelner Fallgeschichten zusammensetzen. Und dass es mir darum geht, klar zu zeigen, wie meine Arbeit verläuft, und dass es mir hier in erster Linie um den Austausch mit Kollegen und Kolleginnen geht. Ich werde in Zukunft unter jeden Fall, den ich berichte, einen solchen Hinweis setzen.

 

Wenn ich sehe, wer meine Seite abonniert hat, sind es überwiegend Menschen, die haupt- oder ehrenamtlich in der Hospiz-, Palliativarbeit und Trauerbegleitung aktiv sind. Es sind keine oder nur ganz selten Patienten. Was wollen Sie denn mit ihrer Facebook Seite erreichen, wurde ich gefragt. Es stieß auf Verwunderung, dass ich und viele Kollegen und Kolleginnen Facebook für den fachlichen Austausch, für die Vernetzung nutzen. Nein, auf Facebook postet man nicht nur Urlaubs-, Essens- oder Katenfotos. Obwohl ich auch sehr gerne vom Kochen- und Backen berichte! Es gibt sehr viele herzliche Vernetzung mit Kollegen und Kolleginnen auf Facebook, die gerade in den drei Jahren Coronakrise sehr gewachsen ist.

 

Diese Woche bekam ich übrigens die Anfrage, an einem wissenschaftlichen Buchprojekt teilzunehmen mit einem kurzen Kapitel. Ich habe gerne zugesagt. Gestern bekam ich die Zuschrift der zuständigen Verlagsfrau. Und was stand da drin? Bitte schreiben Sie auch unbedingt von Fallgeschichten! Es besteht ein großes Interesse, Themen in Form von Fallgeschichten aufbereitet zu bekommen. Auch Spendenkampagnen funktionieren selten ohne den Bezug zu fiktiven Fallgeschichten.

 

Ich habe daraus gelernt, dass ich nicht mehr so unbefangen schreiben kann. Ich will aber weiterhin schreiben, Warum schreibe ich regelmäßig in Blogartikeln und auf Facebook über meine Arbeit? Weil es meine Arbeit plastisch erkennen lässt, weil es dem Austausch mit Kolleg*innen hilft und weil es mich als handelnde Person erkennbar werden lässt. Und weil Schreiben auch für mich eine Art ist, mich mit meiner Arbeit auseinander zu setzen und mir selbst dabei über manche Dinge klar zu werden.

 

Ich nehme diese Warnung sehr ernst. Ich habe vor, in Zukunft, bei jeder Fallgeschichte, die ich fiktionalisiert, zusammengefasst und verfremdet berichte, einen solchen Hinweis darunter zu setzen. Es war missverständlich und didaktisch unklug, wie ich bis jetzt vorgegangen bin.

 

Außerdem habe ich den Austausch mit Kolleginnen gesucht, die ebenfalls solche Fallgeschichten im Internet, auf Facebook oder Instagram posten. Es war für viele von uns klar, dass wir das weiterhin machen wollen. Weil nur so die Arbeit verständlich wird. Und weil wir damit auch der Tabuisierung von Sterben, Tod und Trauer entgegentreten. Weil wir uns gegenseitig vernetzen, bereichern und voneinander lernen wollen.

 

Ich danke allen, die bis hierher diesen Artikel in eigener Sache gelesen haben. Gerne kann die Kommentarfunktion genutzt werden...

 

Mit herzlichen Grüßen

 

Monika Müller-Herrmann

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Kommentare: 2
  • #1

    Elfi Elliot (Donnerstag, 23 Februar 2023 09:18)

    Das ist doch eine gute Lösung, einfach eine Erläuterung unter den Text. Die Texte selbst sind für mich von großem Interesse, man kann sich konkret Gedanken machen, wie gehst Du damit um, was würde ich machen….

  • #2

    Monika Müller-Herrmann (Freitag, 24 Februar 2023 15:06)

    Liebe Elfi,
    danke Dir für Dein ermutigendes Feedback...
    Herzliche Grüße,
    Monika Müller-Herrmann